Als Hidden Champion werden in den Wirtschaftswissenschaften solche Unternehmen bezeichnet, die in Nischensegmenten des Marktes eben dazu werden – ›heimlichen Gewinnern‹. Der Öffentlichkeit kaum bekannt, üben sie jenseits des Scheinwerferlichts beträchtlichen Einfluss aus – als Pioniere und Vordenker, als Avantgarde.
Apropos: auch in den Künsten kennt man solche Hidden Champions – die angesichts der anhaltenden Genieverehrung und Kanonisierung allerdings aktiv aus ihren Verstecken geholt werden müssen. Konkret auf die Klangkunst bezogen, kann die Neue und experimentelle Musik selbst als ein echtes Nischensegment gelten – aus dem einige wenige Leuchttürme wie etwa John Cage herausragen; hinter diesem nun versteckt sich tatsächlich ein heimlicher Champion: David Tudor – der auf vielfältige Weise hidden ist und doch das avantgardistische Geschehen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts prägte: als vielleicht erster Composer-Performer und inGENIEur, der die diskrete Klaviatur des elektroakustischen Instrumentariums und die fluide Musikalität der Stromkreise Behind The Scenes auslotete.
Interpret:innen führen in der klassischen Musikkultur ein Schattendasein – ungeachtet der Tatsache, dass schillernde Diven und virtuose Solist:innen oft im Rampenlicht der Bühnen stehen. Tatsächlich aber sind sie im klassischen Musikverständnis letztlich austauschbares Werkzeug, indem sie den Notentext der Komponierenden möglichst partiturgetreu in Klänge zu übersetzen haben; umso mehr gilt das im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit, wo musikalische Maschinen die Rolle der Interpretierenden teilweise obsolet machen; zugleich aber werden damit auch neue Konzepte von Aufführung und Komposition ermöglicht…
David Tudor ist heute, wenn überhaupt, vor allem als Interpret, genauer gesagt als Pianist bekannt. Als solcher spielte er nach 1945 eine große Rolle bei der Vernetzung der transatlantischen Musikavantgarden: 1950 realisierte er die US-amerikanische Erstaufführung der Klaviersonate Nr. 2 von Pierre Boulez, noch vor dem Durchbruch des Franzosen auf europäischem Parkett. Früh brachte er auch Werke amerikanischer Avantgardisten wie Morton Feldman und Christian Wolff, Earl Brown und La Monte Young zur Uraufführung, denen er bei seiner Europatour 1954 auch in der ›Alten Welt‹ Gehör verschaffte, woraufhin Karlheinz Stockhausen ihm sein frühes Klavierstück VI (1955) widmete. Vor allem aber ist Tudor bekannt als kongenialer Pianist an der Seite John Cages: er brachte die vom Zufall gesteuerte Music of Changes (1951) ebenso zur Uraufführung wie das skandalumwitterte Concerto for Piano and Orchestra (1958) und das legendäre 4´33´´ (1952) mit seinen vier Minuten und dreiunddreißig Sekunden Stille. Obwohl nun gerade Cage durch Konzepte wie ›Aleatorik‹ und ›Indeterminacy‹ die Rolle der Interpretation aufwertete, stand der stille Tudor doch in seinem langen Schatten und dem nahezu aller großen Komponisten der Nachkriegsgeneration (das generische Maskulinum spiegelt die wenig diverse Verfassung der Neuen Musik nach 1945). Versteckt hinter dem Flügel, prägte Tudor das Repertoire und die Spieltechnik avancierter Klaviermusik nachhaltig – als Hidden Champion.
Noch mehr gilt diese Zuschreibung für David Tudors größtenteils unbekanntes Schaffen als Komponist – das im öffentlichen Bewusstsein ziemlich hidden ist. Denn tatsächlich mutierte er seit den 1970er Jahren vom herausragenden Pianisten Neuer Musik zum Komponisten transmedialer Audiovisionen. Diese Transformation vom Reproduzenten zum Produzenten ist besser noch als Verflechtung der Rolle von Performer und Composer zu verstehen – was insofern wenig überraschend ist, da Tudor schon von 1939 bis 1943 Klavier und Komposition beim emigrierten Ehepaar Irma und Stefan Wolpe studierte (was einmal mehr die Rolle des Krieges für das entanglement der transatlantischen Musikkulturen belegt).
Dass Tudors kompositorisches Schaffen untrennbar mit der schöpferischen Interpretation seiner Rolle als Interpret verflochten ist, legt auch sein expliziter Bezug auf eine Kernaussage von Ferruccio Busonis visionärem Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst von 1906 nahe: »notation as an evil separating musicians from music«. Nun verkörpert die elektronische Musik die absolute Einheit von Produktion und Reproduktion, Komposition und Interpretation – die Tudor in seinem Wechsel vom Klavierspiel zur Live-Elektronik, vom mit-komponierendem Pianisten zum performierenden Komponisten vollzog. Und so ist seine schöpferische Arbeit am ehesten als die eines Composer-Performer zu beschreiben: War seine Tätigkeit als Interpret weit mehr als eine reproduzierende Aufführungspraxis, so war sein Komponieren eine unmittelbar erlebte und performte Praxis – eine Verlebendigung der notierten Zeichen, die insbesondere in Hörweite der elektroakustischen Dämmerung virulent wurde, in deren Zwielicht David Tudor den Wandel vom Genie zum Ingenieur vollzog.
Hidden war auch David Tudors kompositorisches Schaffen selbst – indem er sich vom Rampenlicht der Bühnen und dem herkömmlichen Instrumentarium ab- und den Klängen diskreter Schalt- und Stromkreise in den Eingeweiden elektroakustischer Gerätschaften zuwandte. Ist bei herkömmlichen Instrumenten offensichtlich, wie und wo der Ton und seine Resonanz erzeugt werden, versteckt sich synthetische Klangerzeugung hinter den Knöpfen, Schaltkreisen und Kabeln musikmaschineller ›Black Boxes‹. Die Kybernetik bezeichnet damit komplexe Systeme, deren innerer Aufbau und Funktionsweise unbekannt sind; der Mathematiker und Philosoph René Thom schrieb zu diesen geheimnisvollen Objekten: »The only conceivable way of unveiling a black box, is to play with it« – und genau das tat David Tudor, der auch in diesem Sinne als Hidden Champion der elektronischen Musik verstanden werden kann: Er spielte mit Schaltkreisen, experimentierte mit modularen Bauteilen und lotete die diskrete Musikalität der Stromkreise aus – die sich hinter einem für Menschen niemals zur Gänze nachvollziehbaren technischen Innenleben versteckt. »My friends« nannte dieser inGENIEeur folgerichtig seine musikalischen Gerätschaften und gestand diesen nonhumanen Akteuren eine eigenständige kreative agency zu – das zeigt sich in Tudors Faible für Batterien mit ihrer begrenzten Lebensdauer, seiner minimal-invasiven Haltung gegenüber den Triebkräften des Materials, seiner Liebe zur Poesie selbstspielender Schaltkreise. Komposition wird in diesem Zusammenspiel von Mensch und Maschine nicht mehr als ein Fest-setzen von Notation verstanden, sondern als offener, hybrider und fluider Prozess: ›Alles fließt‹ – Klänge, Assoziationen, nicht zuletzt Strom…
*AnnaSchürmer