Auf den ersten Blick mögen die experimentelle Musik von David Tudor und die diversen Stile elektronischer Tanzmusik, die auf einem Rave zu hören sind, nicht viel gemeinsam haben. Erstere kann zugleich unheimlich verspielt und hermetisch unverständlich wirken, und nicht selten ist Hörer:innen beim ersten Hören eine gewisse Verwirrung anzumerken. Letztere dagegen wird in der Regel als eingängig erlebt, ist musikalisch eher schlicht aus wenigen sich wiederholenden Elementen gebaut und im Aufbau kaum überraschend. 

Mit dem Projekt RaveForest wird diesem Eindruck der Unvereinbarkeit widersprochen: Der Titel RaveForest behauptet, es gäbe eine inhärente Verbindung zwischen David Tudors für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts epochalen Rainforest IV und dem nicht weniger epochalen Techno und seiner Erlebnisform des Rave. Wie kann das sein? Dazu betrachten wir zuerst einmal, was die beiden Arten von Musik ausmacht. 

In experimenteller Musik wird radikal mit üblichen Vorstellungen davon gebrochen, dass Musik einen Beat, irgendetwas Melodieartiges und halbwegs vertraute Harmonien haben müsse, um als Musik zu funktionieren. Innerhalb des großen Feldes der zeitgenössischen Kunstmusik, zu dem sie gezählt wird, schlägt experimentelle Musik sogar besonders weit aus der Art. Während der überwiegende Teil dieser ›Neuen Musik‹ die Konzepte von Melodie, Rhythmus und Harmonie weiterführt und ›nur‹ (oft erschreckend genug) in ungewohnte Varianten derselben transformiert, kommen sie in experimenteller Musik quasi nicht oder nur in Andeutungen vor, die eher ihre Negation als ihre Affirmation darstellen. An ihre Stelle treten, wie es die Bezeichnung andeutet, Experimente mit der Auflösung der Grenzen zwischen Musik als klingende Kunst der Gesellschaft und letztlich allen anderen Lebensbereichen dieser Gesellschaft. Die musikalische Praxis nährt sich aus musikfremden Systemen, wenn z.B. regelrechte ›Spielregeln‹, Elemente der Raumarchitektur, Handlungen des Publikums oder technische Vorgänge (wie bei Tudor das eigenwillige Verhalten elektronischer Schaltungen) die musikalische Interaktion strukturieren. Musik dringt so in alltägliche Vorgänge ein und spiegelt damit Bereiche des Lebens wider, die nach bürgerlichem Musikverständnis mit den Künsten nichts zu tun haben. Dahinter steht auch das Ziel, sich von der Idee zu lösen, dass Kunst subjektiven Ausdruck der Künstler:innen-Persönlichkeit zu leisten habe. Indem Raum, Alltag, Sozialleben, Natur oder Maschine der Musik Strukturen leiht, werden die Ideen des Künstler-Genies und der Seelenschau drangegeben und ersetzt durch eine Vorstellung von Kunst als Weltschau. 

Elektronische Tanzmusik hält in den meisten Fällen an Beat, Melodie und Harmonie als musikalische Grundprinzipien fest. Sie löst sich aber von der Lied-Struktur und speist sich oft aus Material, das keine klar zuordenbare Autorschaft mehr hat. Da werden Breaks und Klangflächen anderer DJs verwendet, und zumindest im Live-DJing im Club oder auf dem Rave gehen Tracks so ineinander über, dass kaum mehr ein ›Stück‹ erkennbar wird und stattdessen ein Strom von Rhythmen entsteht, der zwar eine Handschrift trägt, aber zuvorderst einem Zweck dient: Der heute und hier tanzenden Crowd so in die Beine zu fahren, dass sie möglichst lange und gemeinsam ihre eigenen Körper und die der anderen intensiv erleben. Aber Rave meint mehr als die Musik, zu der dort getanzt wird. Getanzt wurde auch in den Discotheken der 1970er, aber dort waren es die aktuellen Chart-Hits, die als Werke popkultureller Musik-Stars abgespielt wurden, während beim Rave der DJ als (wenn auch idealisierter) Diener der Crowd den Musikstrom auf deren Feedback hin nach deren Bedürfnissen lenkt. Der Rave wird damit zum Erlebnis einer Gruppe, die gemeinschaftlich einen Ort und das aktive Zusammensein gestaltet. 

Eine ganz wesentliche Verbindung zwischen experimenteller Musik und Rave liegt in der folgenreichen Verortung in einem spezifischen Raum. David Tudor tat das in vielen seiner Arbeiten, und in Rainforest sogar in mehrfacher, quasi verschachtelter Art: Da ist der Raum, in dem Klangkörper so positioniert werden, dass die akustische Architektur zum Klingen gebracht und vom Publikum autonom durchschreitend artikuliert wird. In diesem Raum befinden sich aber weitere Räume, nämlich die Resonatoren aus Blechtonnen, Holzkisten etc., deren form- und raumspezifische Eigenresonanz die darauf einwirkenden Klänge nach deren raumakustischen Merkmalen transformieren. Im Rave verschachteln sich ebenfalls mehrere Räume. Da sind die akustischen Hall- und Echoräume, die den elektronischen Klängen im Produktionsstudio überlagert werden und die sich nun mit der Akustik des Hörraums verbinden. Orte für Raves werden dabei oft ähnlich wie die für Performances experimenteller Musik aufgrund ihrer Patina, ihres ganz eigenen visuellen, historischen und akustischen Charakters ausgesucht und sind nicht selten weit entfernt von gängigen Vorstellungen davon, welche Nachhallzeit und Prägnanz in der Abbildung von Instrumentalklangfarben ein Saal zur Aufführung von Musik haben solle. Abbruchhäuser, Lagerkeller, Waldstücke, Wiesen oder Strände geben beiden Arten von Musik besondere Arten der Rahmung, weil sie gerade nicht neutral oder funktional allein die Musik in den Vordergrund stellen, sondern Raum für Resonanzen zwischen den Klängen, dem Patina der erlebbaren Raumgeschichte und dem Charisma der Gäste öffnen. 

Es lassen sich noch weitere Parallelen finden. (*) Während in elektronischer Tanzmusik im Remix eine potentiell endlose Reproduktion von Techno-Tracks in neue Versionen und Fassungen und Substile erfolgt, erfolgt in experimenteller Musik eine ebenfalls potentiell endlose Transformation musikalischen (oder sonstigen) Materials in neue Strukturen, Klangfarben oder Handlungsformen. (*) Während in letztlich aller populärer Musik das Aufnahmestudio mit seiner Architektur, Akustik und technischen Ausstattung vom neutralen Behälter zum Musikinstrument (oder zumindest zu Extensionen der dort gespielten Instrumente) erhoben wurde, ist es bei experimenteller Musik der Performance-Raum, der vom Behälter zum klingenden, technisch eigenständig agierenden und performativ-körperlich genutzten Teil des Instrumentariums und erlebbaren Ausdruck seiner Nutzung durch Menschen wird. (*) Während in experimenteller Musik Prozesse der Interaktion mit Klangquellen im Raum das Konzept des abgeschlossenen musikalischen Werkes verdrängen, ersetzen im Techno prozesshafte Interaktionen zwischen DJing und körperlich-tänzerische Performanz der Musik durch das Publikum das Konzept des Abspielens eines werkhaften Chart-Hits in der Disco. 

Besonders markant an David Tudors Umgang mit elektronischen Klangquellen und Klangeffekten ist der Status, den er seinen kleinen Apparaten zukommen lässt. Tudor hat im Laufe seines Lebens mehrere hundert solcher Apparate selbst gebaut und spielte oft einen ganzen Tisch voller scheinbar arbiträr verdrahteter Elektronikkästchen. Nur: er spielte sie nicht, wie man ein Cello oder eine Flöte ›beherrscht‹, sondern er spielte mit ihnen, wie man mit jemandem Schach, Tennis oder Verstecken spielt. Damit gab er den Apparaten den Rang fast eigenständiger Instrumentalist:innen. Dieses ungewöhnliche Verständnis von ›Musikinstrument‹, das sich quasi selber spielt und den menschlichen Spieler mit unerwarteten Wendungen überrascht, hat in den letzten Jahren vor allem über den Boom der sogenannten ›Modularsynthesizer‹ seinen Weg in die elektronische Tanzmusik gefunden. Wieso einzelne Töne spielen und von Hand variieren, wenn es elektronische Module gibt, die das auf überraschende Weise (scheinbar ›einfallsreich‹) eigenständig tun? Die Techno-Musikerin von heute nimmt sich an David Tudor und der ihm nachfolgenden Tradition experimenteller Musik ein Beispiel, wenn auch meist ohne genauere Kenntnis dieses Bezugs, und erhebt die Elektronik vom Instrument zum ›agent musicale‹. 

Golo Föllmer